- indische Wissenschaften und Heilkunde
- indische Wissenschaften und HeilkundeJahrtausendelange Handelsbeziehungen führten bereits seit der Zeit der Industal-Kultur im 3. Jahrtausend v. Chr. zum Austausch von technologischem Wissen über weite Distanzen. Kupfer- und Bronzetechnik, Kanalisation, Bewässerung, Spinn- und Webtechniken wurden unter anderem im Kontakt mit den vorderasiatischen Hochkulturen entwickelt. In den religiösen Texten der »Rigveda« finden sich naturphilosophische Spekulationen, die auf Kontakte mit der griechischen Naturwissenschaft schließen lassen. Außerdem lässt sich später wechselseitige Befruchtung mit der chinesischen und der arabischen Naturwissenschaft nachweisen.Einige der ältesten indischen Wissenschaften entwickelten sich jedoch in engem Zusammenhang mit dem religiösen vedischen Opfer. Nur durch die in jeder Handlung und jedem Wort den Regeln entsprechende Ausführung eines Opfers ist dessen positive Wirkung gewährleistet. Das Bemühen um die korrekte Rezitation und Auslegung der Texte führte dann zur Erstellung von Lehrbüchern über Wortbedeutungen und Ausspracheregeln, über die Lautlehre, Metrik und Grammatik. Als das Meisterwerk der indischen Grammatik gilt die »Ashtadhyayi« (= Die acht Kapitel Umfassende) des Panini (etwa 5. Jahrhundert v. Chr.). Sie enthält in beinahe 4 000 Regeln sprachliche Erscheinungen des Sanskrit wie Akzent, Wortbildung, Beugung des Nomens und die Lehre von der Wortzusammensetzung. Die Sprache ist so knapp, präzise und formelhaft, dass die Regeln, die auswendig gelernt werden mussten, ohne die Erklärungen eines Lehrers nicht verstanden werden konnten. Die Grammatik des Panini besitzt in Indien bis heute höchste Autorität; in ihrer Folge ist eine umfangreiche Kommentarliteratur entstanden. Der berühmteste dieser Kommentare ist das »Mahabhashya« (= Der große Kommentar) des Patanjali (2. Jahrhundert v. Chr.). Das Werk des Panini sollte jedoch nicht nur der alltäglichen Anwendung dienen. Es galt und gilt noch heute als Abbild der als unvergänglich und ewig wahr angesehenen Sanskrit-Sprache. So beruht auch die durch Bhartrihari (um 500 n. Chr.) begründete Schule der grammatischen Sprachphilosophie auf diesem System.Auch die Mathematik und die Astronomie waren in ihrer Entwicklung ursprünglich mit der Opferwissenschaft verbunden; die Geometrie wurde beispielsweise zur Berechnung von Opferplätzen und Altären überhaupt erst geschaffen. Der Gebrauch sehr großer Zahlen lässt auf eine scharfe Einsicht in das Zahlensystem schließen, das wie unseres ein dezimales ist. Zwei wichtige Entdeckungen auf mathematischem Gebiet stammen wohl aus Indien: Schon frühzeitig wurde das Stellungsziffernsystem innerhalb dieses Dezimalsystems ausgebildet, nach dem die Stelle eines Zahlzeichens in einer Gruppe dessen dezimalen Stufenrang sofort erkennen lässt. Das Vorkommen der Null, die zweite aus Indien stammende Entdeckung, ist zwar inschriftlich erst seit dem Ende des 6. Jahrhundert n. Chr. belegt, liegt aber schon den Rechenregeln des Aryabhata (um 500 n. Chr.) zugrunde.Die wichtigsten mathematischen Studien sind in astronomischen Werken enthalten. Nach Aryabhatas»Aryabhatiya« sind vor allem die Werke des Brahmagupta (7. Jahrhundert) und die des Bhaskara (12. Jahrhundert) zu nennen, die alle drei auch als astronomische Grundwerke gelten.In der Entwicklung der indischen Astronomie lassen sich drei Perioden unterscheiden. Charakteristisch für die vedische Periode, für die die »Brahmanas« die Hauptquelle bilden, ist die Einteilung des Jahres in 12 Mondmonate zu je 30 Tagen und der Sphäre in 27 oder 28 Sternbilder (= »nakshatra«), die der Länge des siderischen Umlaufs des Mondes (= des auf aufeinander folgende gleiche Positionen zu den Fixsternen bezogenen Umlaufs) entsprechen. In der mittleren Periode, die bis zur Zeitenwende dauert, wird das Sonnenjahr mit 366 Tagen anerkannt und durch die Einführung eines fünfjährigen Zyklus mit dem siderischen Umlauf des Mondes in Einklang gebracht. In der dritten Periode, als deren Grundwerke die »Siddhantas«, umfassende Lehrbücher, gelten, wird unter griechischem Einfluss ein wissenschaftliches astronomisches System mit genauen Berechnungen entwickelt. Die Erde wird dabei als ruhende Kugel betrachtet, um die Sonne, Mond und Sterne ihre kreisförmigen Bahnen ziehen. Neben die Einteilung in den 27 Sternbilder umfassenden siderischen Umlauf des Mondes tritt der aus 12 Zeichen bestehende Tierkreis.Auch den »Gesellschaftswissenschaften« im weitesten Sinn wurde in Indien Aufmerksamkeit geschenkt. Die nach brahmanischer Auffassung aus »drei Gruppen« (= »trivarga«) bestehenden menschlichen Aktivitäten wurden in autoritativen Lehrbüchern behandelt; diese Aktionsfelder sind der Dharma, der Religion, Recht und Sitte umfasst, der Artha, der weltlichen Gewinn, Besitz und Macht betrifft, und Kama, in dem Liebe und alles sinnliche Angenehme vereint sind. Das erste dieser Werke, das »Dharmashastra« (=»Gesetzbuch« des Manu), gilt als Offenbarung des Gottes Brahma an Manu, den Urvater der Menschheit. In metrischer Form werden in ihm die Pflichten der einzelnen Kasten und Lebensstadien, die Aufgaben des Königs in Rechtsprechung und Politik, religiöse Zeremonien, die Arten der Tatvergeltung bei der Wiedergeburt und die Wege zur Erlösung behandelt. An dieses »Dharmashastra«, das als Smriti (= autoritative Überlieferung) angesehen wird, schließt sich eine reiche Kommentarliteratur an.Das »Arthashastra«, das berühmteste Lehrbuch zur Staatsführung und Regierungskunst, wird Kautilya zugeschrieben, dem Kanzler des Candragupta Maurya, der 322 v. Chr. das Großreich der Maurya begründete. Neben der richtigen Erziehung und Bildung eines Herrschers werden auch Einzelheiten der Eroberung und Verwaltung eines Reiches, der Bündnispolitik, des Dorf- und Festungsbaus gelehrt.Vatsyayana gilt als Verfasser des »Kamasutra« (= Lehrbuch der Liebeskunst), das etwa aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. stammt; darin erfasst sind alle Aspekte der körperlichen Liebe, wie etwa Liebesspiel und Beischlaf, die verschiedenen Arten der Werbung und Hochzeit sowie die Rolle der Gattin und der Prostituierten.Die einheimische indische Medizin geht ebenfalls auf die vedische Zeit zurück. Sie wird als Ayurveda (= Das Wissen vom langen Leben) bezeichnet, um sie gegenüber der von den Muslimen mitgebrachten »jonischen«, das heißt griechischen, und der aus Europa kommenden modernen Medizin abzugrenzen. Der Ayurveda gilt den Hindus als Anhang zum Atharvaveda, dessen Zauberliedern schon eine gewisse Kenntnis der Heilkunde und der Heilkräuter zugrunde liegt. Nach den Lehren des Ayurveda besteht der Körper des Menschen aus den fünf Elementen leerer Raum, Wind, Feuer, Wasser und Erde. Dabei ist der leere Raum in den Hohlorganen, der Wind in den Bewegungen, das Feuer in der inneren Hitze, das Wasser in den flüssigen, die Erde in den festen Teilen des Körpers zu finden. Die drei aktiven Elemente sind Wind, Feuer und Wasser. Sie bilden die drei Grundsäfte Wind, Galle und Schleim. Leben und Gesundheit besteht aus ihrem harmonischen Zusammenwirken, Krankheiten beruhen auf der Störung dieses ausgewogenen Verhältnisses.Die traditionelle Medizin spielt auch im gegenwärtigen Indien noch eine große Rolle. Der Ayurveda wird in acht Disziplinen eingeteilt, die Ashtanga (= acht Glieder); diese bestehen aus der kleinen Chirurgie (Augen, Nase und Kehlkopf betreffend) und der allgemeinen Chirurgie, der Therapie, der Kinderheilkunde, der Lehre von den Giften, der Kunde von Lebenselixieren und Aphrodisiaka (= Mitteln zur Steigerung der Liebeskraft) und der Geisterkunde. Zu den grundlegenden medizinischen Texten gehören die »Kompendien« des Caraka, des Leibarztes des Kushana-Herrschers Kanishka (1. bis 2. Jahrhundert n. Chr.) und des Sushruta (etwa 4. Jahrhundert n. Chr.). Sie sind neben der »Ashtangahidayasamhita« (= Sammlung der Essenz der achtgliedrigen Wissenschaft) Vagbhatas (7. Jahrhundert) heute noch Standardwerke des Ayurveda.Dr. Siglinde DietzSivaramamurti, Calambur: Indien. Kunst und Kultur. Übersetzung und Bearbeitung der deutschen Ausgabe von Oskar von Hinüber. Freiburg im Breisgau u. a. 41987.
Universal-Lexikon. 2012.